Die Augen sind geschlossen, die Arme fest an den Körper gepresst. Hannes lässt sich nach hinten kippen. Und er hofft, dass einer seiner Freunde ihn schon auffangen wird. Bei dem Spiel, mit dem das Treffen des Neigungskurses „Betrifft: Jungen“ an der IGS Helpsen beginnt, geht es um Vertrauen. Und um die Frage, was man fühlt, wenn man sich auf die anderen verlassen muss. Über Gefühle reden, das fällt den Sechst- und Siebtklässlern noch sichtlich schwer. Um so mehr Spaß haben die Jungen dabei, sich während des nächsten Spieles gegenseitig den Sitzplatz im Stuhlkreis wegzunehmen. Im Neigungskurs geht es um beides: Sich der eigenen Gefühle bewusst werden. Und sich bewegen, rangeln, toben. Und zwar alles ohne Mädchen.
Seit zwölf Jahren wird in Helpsen die sogenannte Jungen-AG angeboten. Die Schule ist damit Vorreiter für eine ganze Reihe von Aktionen im Landkreis, die sich ausschließlich an Jungen richten und die das Ziel haben, Jungen beim Erwachsenwerden zu begleiten und Geschlechterklischees zu hinterfragen. Denn soviel steht fest: Jungen sind in Deutschland ins Hintertreffen geraten. Diverse Studien belegen, dass Jungen in Schule und Uni schlechter abschneiden als Mädchen, dass sie öfter sitzen bleiben und die schlechteren Bildungsabschlüsse vorweisen. Auch auffälliges Verhalten im Klassenraum wird häufiger von Jungen als von Mädchen gezeigt. Und in Sachen Vandalismus sind die jugendlichen Täter zu 90 Prozent männlich. Sind Jungen also die Verlierer der Gleichberechtigung?
So könnte man meinen, wenn man Erik Sondermann zuhört. Der 48-Jährige unterrichtet Deutsch, Religion und Sport an der IGS Helpsen und hat die Jungen-AG ins Leben gerufen. „Es gibt in Deutschland unglaublich viele Beratungsangebote für Mädchen und Frauen. Für Jungen gibt es das aber nicht“, betont der Pädagoge. In der Tat weist der Mädchenkalender, der Jahr für Jahr vom mittlerweile seit gut 20 Jahren bestehenden Mädchenarbeitskreis des Landkreises herausgegeben wird, insgesamt 18 Ansprechpartner auf, die sich in Schaumburg um die Belange von Mädchen kümmern. Für Jungen gibt es weder den entsprechenden Kalender, noch annähernd so viele Berater, erklärt auch Kreisjugendpfleger Andreas Woitke.
„Jungen kommen vielerorts zu kurz“, betont Sondermann und meint damit eine adäquate pädagogische Begleitung beim Erwachsenwerden, die die spezifischen Bedürfnisse von Jungen in den Fokus rückt. Denn Erwachsenwerden, sprich sich selbst und die eigenen Talente kennenlernen, seine Rolle in der Welt finden – das kann für Jungs eine große Herausforderung sein. „Ständig werden Erwartungen an Jungs herangetragen, die vor allem leistungsorientiert sind“, beschreibt Sondermann. Und Woitke erklärt: Bereits von Kindesbeinen an konfrontiere die Gesellschaft ihre männlichen Mitglieder mit der typischen, klischeehaften Rolle des starken Mannes, der keinen Schmerz und keine Tränen kenne. „Ein Mann muss wie der Superheld im Comic sein: stark und mutig. Schwächen darf er nicht zeigen. So lautet jedenfalls das Klischee.“ Die Tatsache aber, dass es nicht „den einen typischen Mann“ gibt, sondern dass Jungen das gleiche Gefühlschaos erleben wie Mädchen, dass sie Träume und Wünsche haben, bleibt dabei auf der Strecke. „Die emotionale Seite der Jungs wird nicht ausreichend beachtet“, betont Sondermann.
Die weitere Herausforderung für Jungs besteht Woitke zufolge in der Tatsache, dass Buben in einer weitgehend weiblich geprägten Welt unterrichtet werden. Ob in der Kita, in der Grundschule oder im Hort: Der Großteil der Pädagogen, die sich außerfamiliär um die Erziehung von Kindern kümmern, sind Frauen. Und die seien sich der ganz spezifischen Bedürfnisse von Jungen meist nicht bewusst. „Jungen wollen sich messen, sie haben untereinander einen körperlichen Umgang, wollen raufen und sich balgen. Und sie haben ein Bedürfnis nach Abenteuer, Action und Nervenkitzel“, beschreibt der Kreisjugendpfleger. Das Problem: Wenn Jungen in der Schule ihrem Bewegungsdrang nachgehen, wirke das im Unterricht oft störend. Reagiere die Lehrerin dann immer wieder negativ, bleibe bei den Jungs hängen: Ich werde nicht angenommen, wie ich bin. „Die Konsequenz ist dann, dass sie sich zurückziehen. Der Lernstoff bleibt unweigerlich auf der Strecke“, sagt Woitke. Das könne so weit gehen, dass eine harmlose Rangelei unter Freunden, die etwas handfester ausfällt, von weiblichen Betreuungspersonen als körperliche Gewalt eingeschätzt und entsprechend sanktioniert wird.
In Kita und Schule fehlen Jungen also oft die Identifikationsfiguren. Und das hat laut Woitke und Sondermann zufolge große Bedeutung für die Rollenfindung. „Fehlen die männlichen Vorbilder, denken Jungs ihre Männlichkeit als Gegensatz zu Weiblichkeit“, sagt der Kreisjugendpfleger. Frauen reden über Gefühle, Männer nicht. Frauen weinen, Männer nicht. Frauen kümmern sich um die Kinder, Männer nicht. Aber was macht Männlichkeit wirklich aus? Die klassische Rollenzuschreibung zu hinterfragen, ist primäres Ziel der Jugendarbeit.
Auch in der Helpser Jungen-AG geht es darum, Geschlechtszuschreibungen zu überprüfen. Wie will ich mal sein, wenn ich erwachsen bin? Was wünsche ich mir für einen Vater? Welchen Beruf will ich ergreifen? Sich mit diesen Fragen ohne Vorbehalte auseinanderzusetzen, funktioniere am besten, wenn die Jungen unter sich sind, sagt Sondermann. Ohne Mädchen hätten Jungen nicht permanent den Drang, sich als Bester hervorzutun. In einer reinen Jungengruppe falle es den einzelnen leichter, nicht nur die eigenen Fähigkeiten und Schwächen, sondern auch die der anderen zu akzeptieren und ungewohnte Verhaltensweisen auszuprobieren.
Die männliche Bezugsperson spielt dabei eine große Rolle. Jungen brauchen mehrere Rollenvorbilder, um ihre ganz individuelle Art des Junge-Sein und später des Mann-Sein entwickeln können – losgelöst von Klischees. „Jungen brauchen ein männliches Gegenüber, das mit ihnen über Männlichkeit spricht und Klischees einreißt“, betont Woitke. Auf diese Weise würden die Teenager lernen, dass es keine typischen Männer, sondern viele unterschiedliche Lebensentwürfe gibt. „Männer dürfen weinen, dürfen leise und empathisch sein, dürfen ihre Kinder großziehen und in sozialen Berufen arbeiten.“
Im Neigungskurs „Betrifft: Jungen“ sprechen die Sechst- und Siebtklässler über viele Themen. Über die Zukunft und mögliche Berufe. Über Freundschaft, Liebe und Sex. „Sie lernen, sich reflektiert und losgelöst von Geschlechts-Stereotypen mit dem Erwachsenwerden auseinanderzusetzen“, erklärt Malte Kornfeld, der in diesem Schuljahr die AG gemeinsam mit Felix Riemenschneider anbietet. An diesem Tag geht es nicht nur um Vertrauen, sondern auch ums Ausgrenzen. Wie fühlt man sich, wenn man nicht dazugehört? „Das ist doof und gemein. Man fühlt sich verarscht“, erklärt einer der sechs anwesenden Jungs. Die anderen hören zu, nicken. In der Gruppe darf jeder sagen, was er denkt, ohne Angst zu haben, ausgelacht zu werden. Miteinander reden zu können? Das ist nicht nur männlich, sondern menschlich. kcg
Artikel veröffentlicht: Montag, 23.03.2015 19:00 Uhr